Maulwurf

Ohhooo, wir fahren alle nach Bordeaux!

Ein Anruf, Verwirrung, kurzes Chaos und dann doch die Gewissheit: Ich fahre zum Viertelfinalspiel der Fußball-EM in Frankreich zwischen Deutschland und Italien. 3058 Kilometer für 120 Minuten und 18 Elfmeter, die ich niemals vergessen werde. Ein Reisebericht.

Dienstagnachmittag gegen 14 Uhr in Mittweida. Der Vorlesungstag ging etwas früher zu Ende als sonst, ich sitze auf der Couch und schaue die hundertste Wiederholung von Big Bang Theory im Fernsehen an während ich darüber nachdenke, was ich mit dem bevorstehenden Wochenende anstellen könnte. Dann, plötzlich ein aufgeregter Anruf einer Kommilitonin: „Dennis! Wir haben Karten für das Deutschlandspiel in Frankreich, willst du mitkommen?“ Total perplex antwortete ich ohne nachzudenken: „Äääähh…ööhhh“ – „Du musst dich wirklich jetzt entscheiden, Dennis!“ Ich sagte selbstverständlich ja, ohne zu wissen, was das genau bedeuten würde. Vor mir lagen noch vier Tage, 1529 Kilometer sowie eine Belegarbeit und eine mündliche Prüfung bis Donnerstag. Von regulärer Uni ganz zu schweigen. Uff!

YOLO!

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Die Karte zum Glück. Foto: Dennis Heldt

Die folgenden Stunden und Tage sollten zwar enorm stressig werden, doch rückblickend kann man nur eines sagen: Ich würde jederzeit wieder genauso entscheiden. Ich telefonierte herum, schaute im Internet nach spontanen Unterkünften in Bordeaux. 130 Euro die Nacht für ein 3-Sterne-Haus. Tendenz steigend. So langsam ahnte ich, auf was ich mich hier eingelassen hatte. Nicht nur körperlich-mental, sondern auch finanziell. Die Rettung kam von einem ehemaligen Studienfreund aus Gießen. Auch er ist völlig überraschend noch an eine Karte für das Viertelfinalspiel gekommen (Horchmal, wie er das geschafft hatte…)  und schlug vor, gemeinsam nach Frankreich zu fahren, schließlich wären die Fahrt- und Unterkunftskosten dadurch auch geringer. Ein paar Telefonate und Whatsapp-Unterhaltungen später war die Sache dann auch geritzt: Wir fahren also insgesamt zu fünft nach Frankreich, Treff in Karlsruhe. Das gemeinsame Zimmer suchten wir dann über airbnb. Ohne zu viel Werbung für das Portal zu machen: Top! Schick eingerichtetes, sauberes Zimmer mit Frühstück und netten französischen Vermietern, zentral gelegen. Preis: Knapp 300 Euro für zwei Nächte, direkt gebucht. Der chaotische Organisationsteil war also überstanden. Die folgenden zwei Nächte konnte ich vor Aufregung und Anspannung kaum schlafen. Dann war es endlich Freitagvormittag. Start in München und mir ging das Lied von Eintracht Frankfurt „Ohhhoo wir fahren alle nach Bordeaux, wir spielen international, der OFC fährt nur bis Baunatal“ nicht mehr aus dem Kopf. Ich bin bekanntlich kein Frankfurt-Fan und eben mangels Europacup-Spielen mit dem eigenen Verein, ist ein solches Auswärtsspiel etwas ganz besonderes für mich. Das Spiel selbst sollte diese Erwartungshaltung deutlich übertreffen.

Voraussichtliche Ankunftszeit: 4.55 Uhr

Doch unsere weite Autofahrt begann alles andere als optimal: 13.00 Uhr Stau, Berufsverkehr um Stuttgart, 14.30 Uhr Stau, Unfall um Pforzheim, 16.30 Uhr Stau, Unfall bei Baden-Baden. Wir waren noch nicht einmal über die Grenze hinweg und hatten bereits die Nase voll vom Sitzen und Autofahren. Es war 19 Uhr und es prangte eine Zeit am Navi, die uns komplett demotivierte: Voraussichtliche Ankunftszeit in Bordeaux: 4.55 Uhr. Super Aussichten. Zum Glück wurden die Straßen in Frankreich gegen Abend immer leerer. Zeitraubend war dafür aber der erste Tankstopp in Frankreich: Wie bei einer Tröpfchen-Infusion floss das Autogas allmählich von der Zapfsäule in den Tank. Erster Gedanke: Meine Güte, diese Franzosen! Nach dem wohl längsten Boxenstopp der Autofahrtgeschichte „rasten“ wir mit Tempomat 130 unserem Ziel am Atlantik entgegen. Bei einer weiteren Pause kurz vor Mitternacht trafen wir auch die ersten deutschen Fans auf einer Rastplatztoilette irgendwo in Zentralfrankreich. Die zweiköpfige Fantruppe bestehend aus Vater und Sohn stammte aus Regensburg. Geteiltes Leid, ist halbes Leid. Wir wünschten uns gegenseitig eine gute Weiterfahrt, bis morgen Abend. Auch wenn es gegen Ende der Fahrt dann doch immer zäher und unbequemer wurde, erreichten wir tatsächlich noch vor 5 Uhr morgens – damit hatte ich nicht gerechnet – unsere Unterkunft in Bordeaux. Endlich geschafft! Nach einem überzeugenden Blick in die vorübergehende Bleibe hieß es: schlafen, schlafen, schlafen.

„Die Nummer eins der Welt sind wir!“

Im Anschluss an das angesprochene Frühstück (leckeres Baguette mit Käse, Wurst und Marmelade), welches unsere Gastgeber Laurent und Laura für uns bereitstellten, zogen wir auch mit Trikot und Bier am nächsten „Morgen“ gegen 13 Uhr in Richtung Innenstadt. Beim obligatorischen Sightseeing durch die wunderschöne Altstadt von Bordeaux fiel wenig überraschend auf: Viele deutsche Schlachtenbummler, wenige Italiener – auch wenn es gegen 16 und 17 Uhr zunehmend voller wurde und auch einige Anhänger der Squadra Azzurra die Stadt bevölkerten. Es wurden Lieder gesungen, hier und da mal ein kurzer Small-Talk gehalten und natürlich jede Menge Erinnerungsfotos geschossen.

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Deutsche Fans in der Innenstadt von Bordeaux einige Stunden vor Anpfiff. Foto: Dennis Heldt

Auch wenn sich die deutschen Gesänge auf das übliche „Schlaaand, Deutschlaaand“ und „Die Nummer eins der Welt sind wir“ begrenzten, schön war die Stimmung dennoch. Da wurde man in den Vorberichten von Iren, Nordiren und Isländern aber auch verwöhnt. Den Italienern fiel nämlich auch nicht mehr als der Refrain ihrer Nationalhymne ein. Nun ja. Gegen 19 Uhr ging es dann auf ins Stadion bei herrlichen Temperaturen und strahlendem Sonnenschein. Für Groundhopper dürfte das „Stade Matmut Atlantique de Bordeaux“ eher eine Enttäuschung gewesen sein. Marke: „Schmuckkästchen“. Steil, zuschauerfreundlich und nah am Rasen. Aber eben auch ein Betonklotz, farblos ohne eigenen Charme. Aber egal, es geht ja um das Spiel. Immerhin ein Klassiker: Deutschland gegen Italien, der ewige Angstgegner der deutschen Mannschaft. 2006, 2012: Bittere Niederlagen, die sich in das Gedächtnis der Fußballnation tief eingebrannt haben. Heute sollte der Fluch dann fallen. Die Atmosphäre war schon vor dem Spiel nervös bis angespannt. Pikantes Details: Wir saßen neben dem italienischen Block. Weil diese aber nicht genügend Karten verkaufen konnten, bekamen wir überhaupt noch welche über das Restkontingent. Da diesen Weg aber scheinbar viele wählten, war der Bereich hinter dem italienischen Tor stärker von schwarz-rot-gold besetzt als von blau-weiß.

Hau ihn jetzt bitte rein!

Was auf dem Platz folgte, ist bekannt. Drückende Überlegenheit der deutschen Mannschaft, belohnt durch Özils Treffer, der uns eigentlich eine Runde weiterbringen sollte. Doch dann kam Boatengs Handspiel, von unserer Position gut sichtbar. Keine Frage, Elfmeter. Es sollte nicht der Letzte sein. Meine Kommilitonin sagte noch vor dem Spiel zu mir: „Bitte kein Elfmeterschießen, diese Dramatik halte ich nicht aus.“ Die gute Nachricht: Sie lebt noch. Wir sind aber im Stadion alle mindestens ein Jahr älter geworden. Das Auf und Ab muss sich vor dem Fernseher schon unerträglich angefühlt haben, man kann gar nicht beschreiben, wie es sich im Stadion angefühlt hat. Sowas muss jeder selbst für sich einmal erleben, da helfen auch keine Worte.

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Unmittelbar nach dem Elfmeterkrimi: Die DFB-Elf feiert mit den Fans den Halbfinaleinzug. Foto: Dennis Heldt.

Nur einen Satz habe ich die ganze Zeit vor mich hingesagt „Hau ihn bitte rein!“ Schon bei Müller, auch bei Schweinsteiger und dann natürlich auch bei Jonas Hector. Ich dachte sogar einmal kurz daran, was passiert, wenn das Ding schiefgehen sollte. 1529 Kilometer für ein paar verschossene Elfmeter? 1529 Kilometer, um dann auch noch live und hautnah die Italiener jubeln zu sehen? Schon wieder? Den Fernseher kann man dann wutentbrannt ausschalten, wir standen mittendrin, neben den Italienern. Der Weg in die Stadt wäre danach noch weit, ganz zu schweigen von der Trauerfahrt 1529 Kilometer zurück nach Hause. Ich versuchte genau diese Gedanken zu verdrängen. Es durfte einfach nicht passieren. Jonas Hector, du hast ein klasse Spiel gemacht, hau du jetzt dieses Ding rein! Kurz vor Mitternacht in Bordeaux: Hector läuft an, schießt. Ich sehe kurz Buffon in die richtige Ecke springen und denke kurz „NEIN!“, dann geht der Ball unter ihm durch ins Tor. JUBEL! AUS! VORBEI! Und ja, da war er wieder dieser Moment im Leben eines fußballbegeisterten Mannes: Ich habe geweint. Was für ein Ende für dieses Spiel. Der Italienfluch gebrochen im verrücktesten Elfmeterschießen an das ich mich erinnern kann. Es folgte natürlich Party mit Polonaise und einer Blasmusikkapelle vor dem Stadion, Siegesgesängen im Shuttle-Bus und in der Innenstadt. Gegen halb drei waren wir aber alle mit den Kräften am Ende. Todmüde, aber überglücklich. Sonntagmittag dann die ganze Strecke zurück. Diesmal ohne Stau. Ein Wahnsinnswochenende. Mental, körperlich und seelisch gingen diese drei Tage absolut an die Substanz. Aber es hat sich gelohnt. Und wie. Auch wenn uns der EM-Titel in diesem Jahr versagt blieb, wir sind ja noch Weltmeister. Außerdem geht es weniger um Titel oder Trophäen. Für mich ging es darum, dabei gewesen zu sein. Dabei gewesen zu sein bei einem historischen Spiel, von dem man noch in Jahrzehnten erzählen kann. Check!

Fotos: Dennis Heldt.

 

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